Beckmanns Jugend- und Schulzeit

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[Überschrift nach originalem Inhaltsverzeichnis: Meine Jugendzeit]

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Am 10. April 1893 wurde ich geboren. Meine Eltern wohnten noch Friedrichsstraße, erste Etage. Nach ihrer Hochzeit waren sie zuerst zur Bocksmauer gezogen, doch die alte Tante Gol[g] hatte keine Ruhe, bis meine Eltern eine eigene Wohnung bezogen. Aus den ersten Kinderjahren blieben keine Erinnerungen. Wohl bin ich als einjähriger Bub durch das Zimmer gerutscht zu Mit[be]wohnerin van Betgen und holte eine Wurst aus dem Schrank und brachte sie meiner Mutter. Bald darauf zogen meine Eltern zur Bierstraße Osnabrück. Mein Vater arbeitete selbstständig, seitdem er nicht mehr im Luegschen Geschäft tätig war. Einzelne Erinnerungen blieben. Daß wir drei (Tine, Theo und ich) zusammen beim Vater ins Bett krochen, mein ein Jahr jüngerer Bruder Theo sämtliche Knöpfe in die Fußritzen steckte. Das Begräbnis meines Bruders, der mit drei Jahren starb. Wo wir in einer Kutsche fuhren und ich Blumen tragen durfte, wo ich dem Lehrling Hermann Frühstück bringen sollte, man mich aber nach Stunden am Rathaus sitzend fand, wo ich ein Brot nach dem anderen vertilgte, wo wir drei Geschwister mit unserem von Vater kunstvoll gebauten Kutschwagen, den Ziegenbock davor, durch die Stadt kutschierten, alle Welt staunte. Der Kopf von dem Tier hängt noch heute im Osnabrücker Museum. Wo ich in Melle war, ich beim Bau dort ein Zylinder aufgesetzt bekam und als Architekt Beckmann nun täglich den Neubau inspizierte, vor Zigeunern dort schrecklich Angst hatte, etliche Male in den Graben kullerte. Man mich verloren hatte und mich am Bahnhof Melle wiederfand (Ich wollte meine Eltern ab-

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[Überschriften nach originalem Inhaltsverzeichnis: Meine Jugendzeit/Schulzeit]

[Blatt 44] 

holen, die gar nicht kamen und sagte nur: "Der Zug ist noch nicht da." – Als ich fünf Jahre alt wurde, zogen wir zum Markt. Wohnten unten, hinter dem Hause war eine große Werkstatt. Aus dieser Zeit sind noch viele Erinnerungen geblieben. Vom Spiel an der Marienkirche, vom Milchmann, der mich immer mitnehmen sollte, wenn ich nicht essen wollte. An der Haustür quetschte ich den rechten Daumennagel, ein Spielkamerad riß ihn mir tapfer ab. Dann kam der Umzug zur [L?]ohstraße, wo wir 23 Jahre wohnten. In der letzten Nacht schliefen wir auf Matratzen. Von hier trat ich den ersten Schulgang an. Die Schule war nicht weit, zwei Häuser links an der Lohstraße. Nur die unterste Klasse. Ich saß in der obersten Bank. Als ich meinen Griffel verloren, kroch ich unter alle Bänke her, bis ich den Griffel schließlich in meinem Nacken steckend wiederfand. Als im Garten der große Birn[en]baum reife Früchte trug, verteilte der Lehrer die Fallfrüchte unter uns. Im zweiten Jahr mußte ich zur Domschule, an der Hase gelegen. Eine Erinnerung haftete tief. Ich war um Weihnachten mit meinen Eltern zu einer Weihnachtsfeier. Die Geburt Christi wurde in lebenden Bildern gegeben. Es war für mich ein großes Erlebnis. Die Volksschule blieb in den ersten Jahren nur mit wenigen Erinnerungen zurück. Auf dem Herrenteichswall gingen wir mit mehreren nach Hause. Warfen Steine in die Hase. Ein Herr kam; der sollte 10 Pf haben, der am weitesten werfen konnte.

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[Blatt 45] 

Ich erwarb den Groschen. – Die anderen waren neidisch, wollten es dem Lehrer sagen und ich in meiner Angst, etwas Strafbares getan zu haben, warf den Groschen auch in die Hase. – Im Winter wurde auf dem Eis der Hase gekahnt. Als ich einen großen Kerl (14-jährigen) mit Schneebällen [b]eworfen, paßte der mich auf. Schon lag ich im Schnee, es sollte mir recht bös gehen. Da reißt ein alter Mann meinen Gegner zurück. "Schämst du dich nicht, so nen kleinen Kerl zu verhauen?" Als dieser Retter dann näher zusieht, war der Kleine sein eigener Filius. – Die großen Schlägereien mit anderen Schulen waren an der Tagesordnung. Manchmal waren wir auf jeder Seite über 100 Schüler und mußten von der Polizei auseinandergerissen werden. Dummheiten kamen immer vor. Ein Neese steckte vor meinen Augen einen Rollwagen mit Flachs in Brand, ein anderer stach seinem Mitschüler mit einem langen Nagel in den Rücken, in den Hausfluren elektrisches Licht anstecken, Klingelleuten usw. In den letzten Jahren besuchte ich den Handarbeitsunterricht. Einfache und nette Sachen wurden in Holz gefertigt. Man bezahlte nur den Materialwert. Jeder Tischlermeister hatte so vier bis sechs Schüler, jeder Schüler seine Hobelbank. Acht Meister und ein Obermeister waren tätig. Ich bin später auf der Präparandie auch noch ein Jahr hingewesen. Das kleine Bücherbort [sic] und die Zeitungsmappe

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[Blatt 46] 

stammen auch noch dorther. – Als wir im fünften Jahrgang im Geschichtsunterricht von Karl dem Großen und Pippin dem Kleinen h[ör]ten, wurde in der Pause gespielt. Karl Fink (gefallen) wurde Karl und ich Pippin. Der Name wurde in "Pin" abgeändert und ich habe den Namen behalten. Noch heute glauben die alten Kollegen, daß mein Vorname "Pin" wäre. – Im Zeichenunterricht war ich immer bester Mann, hatte bei unserem Zeichenlehrer Gerke eine gute Nummer, große Freude machte uns auch die Landkartenzeichnerei bei dem Klassenlehrer A. Haar. Der alte Herr bewahrt noch heute von mir ein Heft als Andenken auf, wie er mir kürzlich erzählte. Als der Domchor gegründet wurde, war ich dabei, sang erste Stimme, der Leiter Domsuc[c?]entor Mensing nahm mich als Meßdiener als kleinster Kerl. Ich konnte kaum das Buch tragen und purzelte beim ersten Alleindienen (sonntags, Dom, 11 Uhr Messe) die Stufen herunter, da ich auf meinen zu langen Chorrock trat. Doch das wurde bald besser. Sieben Jahre diente ich, auch manchen fremden Herrn. Dann gabs Trinkgeld, es wurde genau Buch geführt. Bei meinem Herrn bekam ich monatlich eine Mark. Unsere Kapelle, wo gewöhnlich gelesen wurde, war die Kreuzkapelle im Dom. Viel in der Anbetung und sonst überall.

In Domchor war ich Hauptstütze der ersten Stimme. Leider ließ man auch noch mitsingen, als meine Stimme brach, und nun ist's nichts mehr.

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[Blatt 47] 

Als Schwester Tine zur ersten heiligen Communion kam, sang ich im Dom allein das Confiteor. Es soll recht nett gewesen sein. – In den letzten Schuljahren war ich schon kurzsichtig und mußte schon in der Volksschule eine Brille tragen. Als ich zwölf Jahre alt war, kaufte Vater mein Klavier. Ich bekam Unterrichtsstunden bei dem Klavierlehrer Mitte. Jedenfalls war ich noch ein kleiner Kerl, der mit einer Hand noch keine Oktaven spannen konnte. – Mein Spielkamerad Heinr. Hemesath war ein netter Kerl, wurde aber später durch größere Knaben (Vettern usw.) auf nicht gute Streiche gebracht. Er zog sich den Veitstanz zu und starb mit 14 Jahren.

Das Rauchen wurde auch probiert, oben auf unserem flachen Dach, Zigarren machten wir uns selber, von Tabak aus Hemesaths Zigarrenfabrik. Das Ganze war aber nicht so schlimm, sodaß die Hosen dichthielten. Ich ging sonst gern allein los, nach Hellern, um Steine, Versteinerungen, zu sammeln, zur Netterheide usw. In den Ferien ging ich meist 14 Tage und länger zu den Verwandten. Nach Vechta zum Onkel Clemens; wo ich mit Pfeil und Bogen Fensterscheiben entzwei schoß, zum Kartoffelsuchen, in der Backstube mit beiden Füßen auf ein großen Plattenkuchen stieg, mit zum Baden, in Schlägereien mit dortigen Gymnasiasten kam und fürwahr nicht bange war; – oder nach Rothenfelde, wo ich als kleiner Kerl meine

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[Blatt 48] 

erste Laubsäge bekam. Auf dem Markt in Osnabrück saß ich auf dem Bürgersteig und ließ meine Füße von einem Rollwagen auf der Fahrstraße überfahren. Bei Kleins im Bett fand ich mich wieder. Sonst keinen Schaden. Schön war es, wenn Tine und ich sonntags mit Vater zum Gertrudenberg zum Maikäferfangen gingen. Sonntags machte unsere ganze Familie gemeinsame Spaziergänge. Im Winter bei Glatteis legten wir uns am Hasetor dabei allesamt hin. – Das Hagelwetter 1908 war schlimm. Mutter und ich waren zu Vescher1 im Dom gewesen (Peter und Paul). Ein schweres Gewitter stand im Westen. Unheimlich dunkel. Dann kam der Hagel. Vom Gewitter sah und hörte man nichts, nur Hagel. In der Stube flogen Vater auf 5 m Entfernung die Glassplitter ins Gesicht. Alle Scheiben, Dachziegel entzwei. Vom Kasernenplatz kamen armdicke Zweige zur Lohstraße herüber. Die Straße 0,5 m Wasser. Alle Keller versoffen. Kein Glas mehr zu haben. Vater besserte die Fenster der kleinen Kirche aus. – Da ich körperlich schwach war, besuchte ich auf Anraten des Arztes noch ein Jahr die Domschule.

[Fortsetzung Blatt 48 nächstes Kapitel]

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  1. Vermutlich eine Ortsbezeichnung. Welchen Ort Beckmann meint, konnte noch nicht abschließend geklärt werden.