Vergleich: Unterschiede zwischen den maschinen- und den handschriftlichen Tagebuchfassungen
Teile der Tagebücher Beckmanns wurden maschinenschriftlich abgeschrieben. Diese Tätigkeit hat vermutlich die lokale NSDAP-Sekretärin Doris Reissner übernommen, wie aus dem Suchregister NSDAP-Ortsgruppen-Chroniken (Q3.1 und Q 3.2) hervorgeht, in dem sich auf der Titelseite der Vermerk "Zusammengestellt von Pgn.D. Reissner. Glandorf" findet. Diese maschinenschriftlichen Abschriften Reissners unterscheiden sich von den handschriftlichen Versionen der Beckmann'schen Tagebücher an vielen Stellen. Dabei wurden zumeist jedoch keine inhaltlichen Veränderungen vorgenommen wurde, sondern Modifizierungen auf formaler, grammatischer oder verbaler Ebene. Diese werden im hiesigen Kapitel beleuchtet.
Vervollständigungen
Vor allem bestehen die Unterschiede in den Abschriften Reissners in Ausschreibungen bzw. Umstellungen, Ergänzungen und Vervollständigungen der zahlreichen abgekürzten Wörter bzw. Sätze, wie sich exemplarisch an den Einträgen zum 9. April 1940 verdeutlichen lässt:
Statt "Gestern nach Osnabrück. Auto immer zu voll." schreibt Reissner: "Der Postautobus ist nach Osnabrück immer zu voll." Die Information, dass es sich um einen "Postautobus" handelt, ergänzte R vermutlich zur Erläuterung, dass es sich um ein Auto des öffentlichen Verkehrs handelt, was womöglich für viele, aber nicht alle potenziellen Leser:innen der originalen Tagebücher verständlich, für gegenwärtige Leser:innen allerdings zumeist unverständlich gewesen wäre. R? war offenbar an in ihrer Tätigkeit an einer höheren Verständlichkeit gelegen. Auch ihre Vervollständigungen abgekürzter Sätze und Wörter dienten diesem Zweck sowie der Förderung des Leseflusses: "9 Flieger waren über Gl., wahrscheinlich Engl." formuliert sie um in: "9 Flieger waren über Glandorf, wahrscheinlich waren es Engländer."
Auslassungen von 'Unwichtigem'
Wie bereits die Auslassung von "Wetter gut" nahelegt, selektierte D. Reissner bei ihren Abschriften auch nach Relevanz und ließ bestimmte Passagen und Informationen aus, die sie offenbar für nicht erzählenswert hielt. Diese Informationen betrafen oft Angaben zum Wetter sowie sinnliche Eindrücke und Kommentare zur Natur, wie die Einträge zum 22. April 1940 illustrieren:
Reissner lässt hier die Schilderungen zur Natur ("Gestern u. heute schönstes Frühlingswetter. – Alles ruhig. ersten Schwalben") vollkommen aus. Auslassungen wie diese stellen Fälle der seltenen inhaltlichen Veränderung der Tagebucheinträge dar. Sie filtern dasjenige für Beckmann persönlich Bedeutsame/Erzählenswerte raus, welches Reissner für die Gemeinde bzw. potenzielle Leser:innen als nicht bedeutsam einschätzt.
Unterstreichungen von "Schlagwörtern"
Während einerseits Auslassungen von als unwichtig erachten Informationen vorgenommen wurden, so hob Reissner wiederum, dir von ihr als besonders wichtig bzw. zentral erachteten Wörter und Phrasen durch Unterstreichungen hervor, wie der folgende Absatz illustriert:
Durch ihre Unterstreichungen hob Reissner Schlagwörter und Schlagphrasen hervor, die ihr aus verschiedenen Perspektiven als bedeutsam erschienen und deren jeweilige Bedeutung sich in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens manifestiert. Anhand deren Eintragungen vom 12. und 15 Dezember 1941 lässt sich exemplarisch die Bedeutung dieser Unterstreichungen veranschaulichen.
In der Unterstreichung von "Hermann Schwarberg", einem (vermutlich) in Glandorf wohnhaften Wehrmachtssoldaten, wird die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit bzw. Leben und Tod von aus dem unmittelbaren lokalen Umfeld stammenden Einzelpersonen deutlich. Dass hier Namen einzelner Mitbürger explizit genannt und markiert werden, drückt aus, dass gerade in kleinen Gemeinden auf dem Land, wie Glandorf eine war, personenbezogenes Geschehen die gesamte Gemeinde betrifft und interessiert. Todes- und Verwundetenfälle und trafen vielfach persönlich bekannte Menschen, mit denen zudem häufig berufliche, wirtschaftliche, verwandtschaftliche oder ähnliche Beziehungen bestanden, die durch entsprechende Vorkommnisse beeinträchtigt wurden. Unterstreichungen von Personennamen stellen daher einen auffallend großen Teil der Unterstreichungen in den maschinellen Abschriften dar.
Einen weiteren für Zeitgenoss:innen zentralen Bereich markieren Unterstreichungen wie "Kaninchen" oder "Gehamstert", die Fragen der lokalen Lebensmittelversorgung und wirtschaftliche Fragen adressieren. Hierin offenbaren sich die seinerzeit ohnehin unmittelbarer spürbaren und durch die Kriegswirtschaft verschärften Prozesse und Problematiken von (Unter-)Versorgung, Mangel und Lebenshaltung. Beschaffungen von Lebensmitteln, Preissteigerungen und (Überlebens-)strategien stellen also einen zentralen Teil der tagebuch- bzw. chronikartigen Dokumentation des örtlichen Geschehens dar.
Eng damit verbunden sind auch die "Ueberschwemmungen". Natürliche Phänomene wie diese stellen ein für die landwirtschaftliche Arbeit sowie auch für den Verkehr in und um die ländliche Gemeinde herum wirkmächtige Ereignisse dar, die das alltäglich Leben beeinflussen. Überschwemmungen von Straßen und Wegen können den Verkehr massiv behindern, überschwemmte Grundstücke gefährden die Bausubstanz und Überschwemmungen von Flur- oder Waldstücken wirken sich auf die land- und fortwirtschaftliche Nutzung aus – und zwar positiv oder negativ – indem sie eine ausreichende Wasserversorgung für Pflanze und Tier gewährleisten oder aber als Überwässerung die Vegetation beeinträchtigen und gefährden.
Zahlreiche Unterstreichungen markiert militärisches Geschehen in und um Glandorf. Es versteht sich von selbst, dass das Kriegsgeschehen in und um Glandorf einen großen Platz in der Gedanken- und der Gefühlswelt der Bürger:innen einnahm. Das zahlreiche Sterben, die Vermisstenfälle, die Gefangennahmen und die zahlreichen Verwundungen (wie die von "Hermann Schwarberg"), von Bekannten, Freund:innen, Nachbar:innen und Verwandten bewegte die Zeitgenoss:innen ebenso wie das allgemeine Kriegsgeschehen, die Bewegungen der Fronten und das Aufkeimen immer neuer und Gewaltereignisse undKriegsschauplätze, besonders in nächster Nähe, etwa als über "Osnabrück Flakfeuer" sichtbar wurde.
Auch Geschehen, das die zentralen ideologischen Narrative des Nationalsozialismus bediente, wurde hervorgehoben. Die Unterstreichung von "Juden" im Eintrag zur Deportation der jüdischen Menschen aus Osnabrück in den besetzten Osten.1 spiegelte die antisemitische Weltdeutung und die nationalsozialistische Konstruktion des Krieges als ein Krieg gegen das "internationale Judentum" als zentralem Feindbild.
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Tatsächlich wurden viele Osnabrücker Jüd:innen im Dezember 1941 in den besetzten Osten deportiert, allerdings über Riga, von wo aus sie in KZs weiterdeportiert wurden.↩
Depersonalisierung
Ein wichtiger Unterschied zwischen Originaltagebuch und Abschrift besteht in der grammatischen Person, in der die Tätigkeiten des Autors Beckmann beschrieben werden. In den originalen Handschriften verwendet Beckmann zumeist die Erste Person, also die Ich-Form, um über sich selbst zu schreiben, während die Abschriften Reissners dessen Tätigkeiten in der Dritten Person, der Er-Form, beschreiben, und vom "Hauptlehrer Beckmann" sprechen (siehe beispielsweise die Einträge zum 18.04.1940)
Diese Veränderung der grammatischen Person ist eine Methode Reissners, das Tagebuch Beckmanns zu depersonalisieren und zu einer NSDAP-Chronik umzuschreiben. Diesem Zweck der Depersonalisierung dient auch die oben bereits beschriebene Auslassung der Schilderungen persönlicher Eindrücke Beckmanns, beispielsweise zur Natur. Ein weiterer Ansatz zur Depersonalisierung ist die Auslassung von unmittelbar nur für Beckmann (bzw. seinem nahem Umfeld) persönlich relevanter Informationen. So tilgt Reissner Beckmanns Eintrag zur Grippeerkrankung seines Sohnes Norbert. Die zahlreichen Schilderungen aus dem Privatleben, auch über Verwandte außerhalb Glandorfs, wären für Außenstehende von geringem Interesse und in großen Teilen, mangels Hintergrundwissen, kaum verständlich gewesen.
Fazit
Über die maschinenschriftlichen Abschriften Reissners lässt sich nicht ohne Weiteres als 'Kopien' sprechen. Stattdessen stellen sie vielmehr redaktionell überarbeitete, für eine Öffentlichkeit bzw. eine über Beckmann und seine Familie hinausgehende Leser:innenschaft verfasste 'offizielle' Dokumente dar. Durch die Abschriften verlieren die Dokumente ein Stückweit ihren Charakter als Egodokumente und Tagebücher und nähern sich dem Genre der Chronik an und gewinnen einen Charakter als Parteidokumente.