Zur Bedeutung des Projekts

Bereits seit geraumer Zeit kommt Tagebüchern und ähnlichen persönlichen Selbstzeugnissen in der Beforschung des Nationalsozialismus eine prominente Rolle zu.1 Solche Egodokumente versprechen uns einen spezifischen historischen Erkenntnisgewinn: Sie gewähren uns tiefe Einblicke in Bereiche und Aspekte der subjektiven Lebenswirklichkeit der Menschen, die in öffentlichkeitswirksamen Publikationen ihrer Zeit nur wenig Berücksichtigung finden oder die gar explizit nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.2 Quellen wie die aus dem Nachlass Beckmanns gewähren authentische Einblicke in die alltäglichen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gedanken von Menschen, die unter der Herrschaft des NS-Unrechtsstaats lebten und ihren Teil zum Funktionieren der sogenannten ‚Volksgemeinschaft‘ vor und im Zweiten Weltkrieg beitrugen.

Aus Beckmanns Schriften spricht nicht die Lebenswirklichkeit bedeutender und einflussreicher NS-Politiker, Parteifunktionäre, Ideologen, Künstler:innen oder Intellektueller und auch nicht die Oppositioneller, Unterdrückter oder Opfer des Regimes. Vielmehr zeugen sie vom Leben, wie es ein Großteil der Menschen im sogenannten ‚Dritten Reich‘ lebte: Sie zeugen von ‚gewöhnlichen Deutschen‘, die nicht in den politischen Zentren NS-Deutschlands, sondern im ländlichen Raum lebten, die sich begeistern ließen vom Nationalsozialismus und vom Krieg, die selber bereitwillig ihren Teil zum Funktionieren und zur Stärkung der NS-‚Volksgemeinschaft‘ und der Kriegsgesellschaft beitrugen und die letztlich auch selbst unmittelbar unter dem Sterben und den Entbehrungen des Kriegs litten.

Bei den edierten Tagebüchern handelt es sich um einen Quellenfund, der in Zeugnis ‚einfacher Nationalsozialist:innen‘ im lokalen Kontext nur mit einer kleinen Gruppe von Aufzeichnungen, die bisher gehoben und ediert wurden, vergleichbar ist. Nur eine sehr geringe Zahl solchermaßen umfangreicher lokalhistorischer persönocher Quellen vor wurde bisher wissenschaftlich ediert und somit auch überlokal für die Forschung verfügbar gemacht.3

Die Quellenedition birgt verschiedene Potenziale und Möglichkeiten der Nutzung. Konkret kommt, erstens, die Erschließung der Quelle der lokalhistorischen Bildungs- und Forschungsarbeit zugute, zweitens wirkt diese in die historische Forschung zur Geschichte des ‚Dritten Reiches‘ über den lokalen Kontext hinaus, und, drittens, kann sie für die Bildungsarbeit in Schule und Erwachsenenbildung genutzt werden.

Die vielfältigen Potenziale der vorliegenden Quellenedition ergeben sich auch daraus, dass die edierten Schriften nicht als reine Tagebücher bezeichnet werden können, sondern vielmehr ein Gattungs-Crossover darstellen, das auf mehreren Ebenen und aus mehreren Perspektiven interessant ist: Neben den tagebuchtypischen und autobiografischen Beschreibungen und Reflexionen Beckmanns seiner persönlichen Eindrücke und Erlebnisse erfüllen sie zusätzlich auch die Funktion einer Chronik des Ortes Glandorf sowie der dortigen NSDAP-Ortsgruppe. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive sind die edierten Quellen hinsichtlich verschiedener Untersuchungsgegenstände und -aspekte relevant:

  1. STEUWER, Janosch: "Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse". Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Göttingen 2019; PREßLER, Christina: Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus in der historisch-politischen Erwachsenenbildung. Ein Beispiel für zeitgeschichtliches Lernen 2004; SEPP, Arvi: Diaristik und Alltagsgeschichte. Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als periphere Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, in: Revista de filología alemana, 18. 2010, S. 261–272; ROTH, Markus: Chronist der Verblendung - Friedrich Kellners Tagebücher 1938/39 bis 1945. Begleitheft zur Ausstellung: Die Last der ungesagten Worte; die Tagebücher Friedrich Kellners 1938/39 bis 1945, Bonn 2009; TIMMS, Edward: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. Eine Feministin im Nationalsozialismus, Bad Vilbel 2019. Siehe exemplarisch folgende Quelleneditionen: BOCK, Friedrich: Paderborner Tagebuch 1939-1945, Gütersloh 2019; GEISS, Imanuel/ JACOBMEYER, Wolfgang/ FRANK, Hans: Deutsche Politik in Polen 1939 - 1945. Aus dem Diensttagebuch von Hans Frank, Generalgouverneur in Polen, Opladen 1980; Kiel, Markus: „Ich würde mich wieder für die NSDAP entscheiden!". Die kritisch begleiteten autobiographischen Aufzeichnungen des Wuppertaler NSDAP-Kreisleiters Alfred Straßweg, Münster 2017; GOEBBELS, Joseph/ REUTHER, Ralf: Joseph Goebbels Tagebücher, München 1992; GORODETSKI, Gavri'el: Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943, München 2016; HAAG, Anna: »Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode«. Tagebuch 1940–1945, Ditzingen 2023; KELLER, Sven/ KÖNIG, Wolfhilde von: Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946, Berlin, Boston 2015; KELLNER, Friedrich: Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939 - 1945, Göttingen 2013; LINDGREN, Astrid: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945, Berlin 2015; OELWEIN, Marta et al.: "Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort … ". Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938 - 1945, Göttingen 2021; ROSENBERG, Alfred: Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt am Main 2018; SCHALL, Franz Albrecht/ POSTERT, André: Hitlerjunge Schall. Die Tagebücher eines jungen Nationalsozialisten, München 2016; Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd (Hrsg.): Das Diensttagebuch des NSDAP-Kreisleiters Hermann Oppenländer in Schwäbisch Gmünd (1937-1940), Schwäbisch Gmünd 2019; STRESAU, Hermann: Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der inneren Emigration 1933-1939, [S.l.] 2021; UHL, Matthias/ PRUSCHWITZ, Thomas/ HOLLER, Martin/ LELEU, Jean-Luc/ POHL, Dieter (Hrsg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945, München 2020.

  2. DEPKAT, Volker/ PYTA, Wolfram (Hrsg.): Briefe und Tagebücher zwischen Text und Quelle, Berlin 2021; SCHULZE, Winfried: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996.

  3. So zum Beispiel BOCK, Friedrich: Paderborner Tagebuch 1939-1945, Gütersloh 2019; Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd (Hrsg.): Das Diensttagebuch des NSDAP-Kreisleiters Hermann Oppenländer in Schwäbisch Gmünd (1937-1940), Schwäbisch Gmünd 2019; Kiel, Markus: „Ich würde mich wieder für die NSDAP entscheiden!". Die kritisch begleiteten autobiographischen Aufzeichnungen des Wuppertaler NSDAP-Kreisleiters Alfred Straßweg, Münster 2017; KELLER, Sven/ KÖNIG, Wolfhilde von: Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946, Berlin, Boston 2015; OELWEIN, Marta et al.: "Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort … ". Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938 - 1945, Göttingen 2021; SCHALL, Franz Albrecht/ POSTERT, André: Hitlerjunge Schall. Die Tagebücher eines jungen Nationalsozialisten, München 2016.


Die Praxis und Herstellung der NS-,Volksgemeinschaft‘

In der jüngeren Forschung zur Geschichte des ‚Dritten Reichs’ ist neben die Auseinandersetzung mit übergreifenden Deutungen der Geschichte des Nationalsozialismus und des NS-Staats sowie den großen Themenkomplexen der Shoah oder des Vernichtungskrieges wieder verstärkt eine Diskussion über die inneren Verhältnisse der Gesellschaft des ‚Dritten Reichs‘, der NS-‚Volksgemeinschaft’ getreten.4 Das Funktionieren dieser ‚Volksgemeinschaft’ im nationalsozialistischen Sinn, d. h. die aktive Unterstützung des nationalsozialistischen Staates durch die Bevölkerung und die Lebensführung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie war ein Fundament der nationalsozialistischen Herrschaft und Gewalt in und außerhalb Deutschlands. So richtet die jüngere Forschung ihren Blick verstärkt auf die bisher oft weniger berücksichtigten Menschen im ‚Dritten Reich‘, deren Lebenswirklichkeit sich jenseits der exponierten Schauplätze des Regimes entfaltete und die nicht als prominente Akteur:innen, sondern als ‚einfache Bürger:innen’ ihren Teil zum (Fort)leben und -wirken des nationalsozialistischen Unrechtsstaats beitrugen.5 Tagebücher wie die Beckmanns führen uns vor Augen, wie in der ‚Volksgemeinschaft’ die Trennung des ‚Privaten’ und ‚Politischen’ zunehmend verschwamm und das individuelle Leben der Bürger:innen in den Dienst eines höheren Zwecks gestellt wurde.  Die vorliegenden Schriften Beckmanns gewähren einen tiefen exemplarischen Einblick in die Praktiken der sogenannten ‚Volksgemeinschaft’ als ‚Gesinnungsgemeinschaft‘, ihr Wirken und ihre Herstellung von 1933 bis 1945 im ländlichen Raum des heutigen Südwesten Niedersachsens. Sie beschreiben uns die für die ‚Volksgemeinschaft’ konstitutiven politischen, kulturellen, sportlichen oder arbeitsbezogenen Praktiken – wie etwa öffentliche Parteiauftritte und Märsche in und durch Glandorf, Vorstellungen von Propaganda-Filmen in den Gaststätten oder Geld- und Materialsammlungen für die Wehrmacht – und ermöglichen eine Untersuchung der „populistischen Attraktivität“ des NS-Regimes und des Vollzugs von Macht und Machtverlust vor Ort.6 Dabei erzählen sie uns ebenso, wie immer stärker gegen unliebsame Dorfbewohner:innen, die nicht im Sinne der NS-Ideale lebten und sprachen, also die ‚Volksgemeinschaft’ nicht praktisch lebten, vonseiten der Gestapo und ihren Mitmenschen vorgegangen wurde.

  1. Als ‚Volksgemeinschaft‘ definierte die NS-Propaganda ihr Ideal einer homogenen und abgeschlossenen Gemeinschaft ‚arischer‘ Deutscher, die sich allesamt gemeinsam den Interessen und Werten der Nationalsozialismus verpflichtet fühlten und diese in ihrem Alltag praktisch auslebten. Die Herstellung von ‚Volksgemeinschaft‘ zielte dabei vor allem auf den Ausschluss von Menschen, die diesem menschenverachtenden Ideal nicht entsprachen: Dies betraf vor allem jüdische Menschen, politische Gegner, Sinti und Roma, Homosexuelle, Transmenschen, Behinderte und psychisch Kranke, aber auch viele weitere Menschen. (Weiterführende) Literatur zur sogenannten ‚Volksgemeinschaft‘: BONDZIO, Sebastian F.: Doing „Volksgemeinschaft“. Wissensproduktion und Ordnungshandeln der Geheimen Staatspolizei, in: Geschichte und Gesellschaft, 47. 2021, H. 3, S. 343–379; ALY, Götz: Volksgemeinschaft, in: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 71. 2019, S. 485–487; GESSNER, Dieter: Volksgemeinschaft 1933-1945. Zur Entstehung und Bedeutung eines politischen Schlagwortes, Wiesbaden 2019; BLASCHKE, Anette: Zwischen "Dorfgemeinschaft" und "Volksgemeinschaft", Paderborn 2016; GOTTO, Bernhard/ STEBER, Martina: "Volksgemeinschaft" im NS-Regime: Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 62. 2014, H. 3, S. 432–467; HERBERT, Ulrich: Echoes of the Volksgemeinschaft, in: Martina Steber/ Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of community in Nazi Germany. Social engineering and private lives, Oxford, New York 2014, S. 60–72; KERSHAW, Ian: Volksgemeinschaft. Potential and Limitations of the Concept, in: Martina Steber/ Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of community in Nazi Germany. Social engineering and private lives, Oxford, New York 2014, S. 29–42; KELLER, Sven: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013; VAN REEKEN, Dietmar/ THIEßEN, Malte: "Volksgemeinschaft" als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn, München, Wien, Zürich 2013; STEINBACHER, Sybille (Hrsg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Göttingen 2007; WILDT, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.

  2. PAULINI, Christa: Gerade die Fürsorgerin ist zur Mitarbeit am Volksaufbau berufen. Zur Beteiligung von Sozialarbeiterinnen am Nationalsozialismus am Beispiel der Entwicklung der Berufsverbände, in: Ralph Christian Amthor (Hrsg.): Soziale Arbeit im Widerstand! Fragen, Erkenntnisse und Reflexionen zum Nationalsozialismus, Weinheim, Basel 2017, S. 58–74; BADE, Claudia: "Die Mitarbeit der gesamten Bevölkerung ist erforderlich!". Denunziation und Instanzen sozialer Kontrolle am Beispiel des Regierungsbezirks Osnabrück 1933 bis 1949, Osnabrück 2009.

  3. HERBERT, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, München 2016, S. 17 Siehe auch: ROHKRÄMER, Thomas: Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Zur Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn, München, Wien, Zürich 2013.


Die Alltags- und Erfahrungsgeschichte in der NS-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg

Auch gewähren die vorliegenden Quellen Einblicke in Aspekte des Lebens, die nicht unmittelbar ‚volksgemeinschaftlich’ geprägt waren. Sie zeigen, wie die Dorfbewohner:innen Glandorfs unter der NS-Diktatur und den Herausforderungen des Krieges ihren beruflichen und privaten Alltag bestritten, wie sie ihre persönlichen Probleme bewältigten, welche Einfluss das Wetter nahm, wie sie sich auf den Krieg vorbereiten, an ihm – zuhause oder an der Front – teilnahmen und mit ihm leben. Die Quellen spiegeln – vermittelt durch die Wahrnehmungen eines lokalen Autors – exemplarisch die Lebenswirklichkeit und den alltäglichen Erfahrungshorizont  der Menschen. Sie geben Einblick in die Entwicklung einer Dorfgesellschaft und die Erfahrungen ihrer Menschen von der ‚Machtergreifung’ über das Sterben und Leben in der Kriegsgesellschaft bis zur Kriegsniederlage und Befreiung 1945.7

Auf der Ebene des lokalen Ereignishorizonts bietet das Tagebuch Einblicke in kulturelle, religiöse soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklungen und Ereignisse. Beckmanns sorgfältigen und ausführlichen Einträge dokumentiere etwa, wie sich die Glandorfer Bürger:innen in der Kriegsgesellschaft um ihre Versorgung mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern kümmerten. Die seinerzeit unmittelbare Bedeutung des Wetters für die heimische Landwirtschaft manifestiert sich ebenso in den Quellen wie die zahlreichen Sterbefälle im Ort durch Krankheiten und Unfälle. Auch das vom Nationalsozialismus, den Auswirkungen und Entbehrungen des Krieges immer mehr durchdrungene Geschehen in der Schule oder in der Kirche ist erkennbar. Sehr eindrücklich erzählen die Quellen auch von der omnipräsenten Bedeutung, die das Frontgeschehen für die Gemeinde hatte: Immer mehr Männer wurden zum Kriegsdienst eingezogen und kehrten nur noch für den Heimaturlaub zurück. Viele starben bald oder wurden als vermisst gemeldet. Beckmann dokumentierte diese individuellen Kriegsschicksale und damit auch die Schicksale der Angehörigen akribisch. Auch werden Kriegsschicksale der von der Wehrmacht überfallenen Menschen aufgezeichnet, indem Beckmann vielfach über die massenhaft verschleppten und ausgebeuteten Zwangsarbeiter:innen berichtet, die auch in Glandorf, besonders in der Landwirtschaft, vielfach eingesetzt und für die heimische Wirtschaft unverzichtbar wurden. Die Schriften Beckmanns geben uns also einen tiefen exemplarischen Einblick in die Lebenswirklichkeiten und das Funktionieren des NS- und Kriegsgesellschaft in einem katholisch geprägten Dorf im Südwesten des heutigen Niedersachsen.

  1. (Weiterführende) Literatur zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Natinalsozialismus: WILDT, Michael: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019; REINICKE, David/ STERN, Kathrin/ THIELER, Kerstin/ ZAMZOW, Gunnar (Hrsg.): Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis 1930 - 1960, Paderborn 2014; ROSENBAUM, Heidi: "Und trotzdem war's 'ne schöne Zeit". Kinderalltag im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2014; BARTOLETTI, Susan Campbell: Jugend im Nationalsozialismus. Zwischen Faszination und Widerstand, Berlin 2007; SCHRECKENBERG, Heinz: Ideologie und Alltag im Dritten Reich, Frankfurt am Main, Berlin, Bern 2003; NIEDHART, Gottfried/ BRODERICK, George (Hrsg.): Lieder in Politik und Alltag des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, Berlin 1999; BERLEKAMP, Brigitte/ RÖHR, Werner (Hrsg.): Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, Münster 1995; RUHL, Klaus-Jörg: Brauner Alltag. 1933 - 1939 in Deutschland, Düsseldorf 1990; KUCZYNSKI, Jürgen: Alltag unter dem Nationalsozialismus in Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte / Economic History Yearbook, 30. 1989, H. 1; PEUKERT, Detlev: Inside Nazi Germany. Conformity, opposition and racism in everyday life, London 1987; PEUKERT, Detlev (Hrsg.): Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981.


Die Wahrnehmung entfernter sowie überregional bedeutsamer Geschehnisse

Gleichzeitig gewährt das Tagebuch – gebrochen durch die Linse einer lokal wirkenden NS-Propaganda – Einblicke in die Wahrnehmung entfernter, außerhalb des unmittelbaren lokalen Kontextes stattfindender Ereignisse und Entwicklungen und in die lokalen Reaktionen auf dieses Geschehen.8 Wie stark weltpolitisches und insbesondere das Kriegsgeschehen die in Glandorf an der ‚Heimatfront’ verbliebenen Menschen emotionalisierte, offenbart sich in zahlreichen Kommentaren Beckmann über die Stimmungen im Ort – Meldungen über Kriegsgeschehnisse lösten Gefühle wie Euphorie, Zuversicht oder auch Sorge in der Glandorfer Bevölkerung aus. So konstatiert Beckmann etwa, dass angesichts der Kriegserklärung an Amerika die „Stimmung recht groß und zuversichtlich“ gewesen sei,9 dass nach dem ‚Abtritt Mussolinis’ eine bedrückte Stimmung geherrscht habe10 oder dass viele Menschen nach der Ausrufung des ‚totalen Krieges’ Angst vor weiteren Einberufungen Angehöriger hatten.11 In diesen Beschreibungen der Wahrnehmungen und Deutungen ‚größerer’ Ereignisse lässt sich das Zusammenwirken herrschender nationalsozialistischen Deutungsschemata und Narrative einerseits und der persönlichen Empfindungen und Eindrücke der Dorfbewohner:innen beobachten.

  1. (Weiterführende) Literatur zur Wahrnehmung entferner politischer und militärischer Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus: KRAMER, Nicole: Volksgenossinnen on the German Home Front. An Insight into Nazi Wartime Society, in: Martina Steber/ Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of community in Nazi Germany. Social engineering and private lives, Oxford, New York 2014, S. 171–186; CEBULLA, Florian: Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924-1945, s.l. 2011; KRAMER, Nicole: Mobilisierung für die »Heimatfront«, in: Sybille Steinbacher (Hrsg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Göttingen 2007, S. 69–92.

  2. NSDAP-Ortsgruppen-Chronik Teil 1 – 1933 bis 28. Juni 1943 (mschr.) (Q3.1), Blatt 152.

  3. NS-Tagebuch Teil 2 – 9. April 1940 bis 30 April 1944 (Q2.2), Blatt 309.

  4. NSDAP-Ortsgruppen-Chronik Teil 1 – 1933 bis 28. Juni 1943 (mschr.) (Q3.1), Blatt 205.


Durch die NS-Herrschaft bedingter Wandel von Sprach- und Denkmustern

Der Blick auf die Entwicklung der in den Tagebüchern gebrauchten Sprache und Narrative zwischen 1933 und 1945 ermöglicht uns, den allmählichen Einzug nationalsozialistischer Sprach- und Denkmuster in den Selbstzeugnissen eines Volksschullehrers und Parteifunktionärs auf der unteren lokalen Ebene der Parteiorganisation nachzuvollziehen. Beckmanns Tagebücher zeigen uns, wie sich die nationalsozialistische Ideologie immer stärker in den Wahrnehmungen, Deutungen, Begrifflichkeiten und der Rhetorik ‚einfacher’ Menschen im ‚Dritten Reich’ etablierten.12 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Einfluss von NS-Jargon auf die lokale Mundart. Als ein schreibender und erzählender Akteur der ‚Volksgemeinschaft‘, der Teil einer Dorfgesellschaft im Osnabrücker Land ist, eignet er sich einen bestimmten Sprachgebrauch an.

  1. GIESEL, Linda: NS-Vergleiche und NS-Metaphern. Korpuslinguistische Perspektiven auf konzeptuelle, strukturelle und funktionale Charakteristika, Berlin, Boston 2019; KÄMPER, Heidrun: Sprachgebrauch im Nationalsozialismus, Heidelberg 2019; SCHMITZ-BERNING, Cornelia: Vokabeln im Nationalsozialismus. 15.10.2010, https://www.bpb.de/themen/parteien/sprache-und-politik/42759/vokabeln-im-nationalsozialismus/ (abgerufen am: 10.05.2024).; BERGSDORF, Wolfgang: Politischer Sprachgebrauch und totalitäre Herrschaft, in: German Studies Review, 17. 1994, S. 23–36; UTZ, Maas: Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand: Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse, Wiesbaden 1984.


Die lokale Dimension des Nationalsozialismus im ländlichen Raum

Eine weitere Fokusverschiebung der historischen Forschung zur Geschichte des Nationalsozialismus hat die lokale Dimension der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ als Untersuchungsgegenstand hervorgehoben. Zunehmend richtet sich der Blick auf die Provinzen des Reichs, auf Kleinstädte und Dörfer. Auch die kulturellen, sozialen und politischen Eigenheiten verschiedener ländlicher Räume stehen im Fokus des Erkenntnisinteresses.13

Die vorliegenden Schriften Beckmanns enthalten eine umfassende Erzählung des Alltags in der kleinen Ortschaft Glandorf im Landkreis Osnabrück besonders von 1933 bis zum Kriegsende aus der Perspektive der leitenden NSDAP-Funktionäre vor Ort. Sie gewähren damit einen tiefen exemplarischen Einblick in das Wirken des Nationalsozialismus in einer ländlichen Gemeinde von wenigen Tausend Einwohner:innen im katholisch dominierten Südwesten der damaligen preußischen Provinz Hannover sowie des heutigen Niedersachsen.14

  1. (Weiterführende) Literatur zum Nationalsozialismus in der Provinz, im ländlichen Raum und lokalen Kontext: STERN, Kathrin: Erziehung zur "Volksgemeinschaft". Volksschullehrkräfte im Dritten Reich, Paderborn 2021; DANKER, Uwe/ SCHWABE, Astrid: Die Volksgemeinschaft in der Region. Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Husum, Nordsee 2020; KIECKBUSCH, Klaus: Außerhalb der "Volksgemeinschaft". Formen der Verfolgung während des Nationalsozialismus im Kreis Holzminden, Holzminden 2020; WINTER, Martin Clemens: Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche, Berlin 2018; GROßBÖLTING, Thomas: Volksgemeinschaft in der Kleinstadt. Kornwestheim und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2017; PAEHR, Sabine: Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in den Dörfern der heutigen Wedemark. Der politische Wandel in den Gemeinden in der Zeit der Weimarer Republik, Wedemark, Hannover 2017; BLASCHKE 2016; DEUTER, Hermann/ WOOCK, Joachim (Hrsg.): Es war hier, nicht anderswo! Der Landkreis Verden im Nationalsozialismus, Bremen 2016; 2016; PETERS, Christian: Nationalsozialistische Machtdurchsetzung in Kleinstädten. Eine vergleichende Studie zu Quakenbrück und Heide/Holstein, Bielefeld 2015; SZEJNMANN, Claus-Christian W./ UMBACH, Maiken (Hrsg.): Heimat, Region, and Empire. Spatial Identities under National Socialism 2012; HOFFMANN, Katharina (Hrsg.): Nationalsozialismus und Zwangsarbeit in der Region Oldenburg 1999; WAGNER, Caroline: Die NSDAP auf dem Dorf. Eine Sozialgeschichte der NS-Machtergreifung in Lippe, Münster 1998; RUPPERT, Andreas/ RIECHERT, Hansjörg (Hrsg.): Herrschaft und Akzeptanz. Der Nationalsozialismus in Lippe während der Kriegsjahre. Analyse und Dokumentation, Wiesbaden 1998; BUCHHOLZ, Marlis (Hrsg.): Nationalsozialismus und Region. Festschrift für Obenaus zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1997; KIßENER, Michael (Hrsg.): Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997; MÖLLER, Horst/ WIRSCHING, Andreas/ ZIEGLER, Walter: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996; MÜNKEL, Daniela: Bauern und Nationalsozialismus. Der Landkreis Celle im Dritten Reich, Bielefeld 1991; ZOFKA, Zdenek: Die Ausbreitung des Nationalsozialismus auf dem Lande. E. regionale Fallstudie zur politischen Einstellung d. Landbevölkerung in d. Zeit d. Aufstiegs u. d. Machtergreifung d. NSDAP 1928 - 1936, München 1979.

  2. (Weiterführende) Literatur zum Nationalsozialismus im katholischen Raum: BRODIE, Thomas: German Catholicism at War, 1939-1945, Oxford 2018; BÜRGER, Peter (Hrsg.): "Es droht die schwarze Wolke". Katholische Kirche und Zweiter Weltkrieg, Bremen 2018; KÖSTERS, Christoph/ RUFF, Mark Edward (Hrsg.): Die katholische Kirche im Dritten Reich. Eine Einführung, Freiburg, Basel, Wien 2018; ZUMHOLZ, Maria Anna/ KUROPKA, Joachim (Hrsg.): Katholisches Milieu und Widerstand. Der Kreuzkampf im Oldenburger Land im Kontext des nationalsozialistischen Herrschaftsgefüges, Berlin, Münster 2012; GEHL, Günter: Katholische Jugendliche im Dritten Reich in der katholischen Provinz. Grenzen der Gleichschaltung - drei Beispiele im Bistum Trier, Weimar 2010; HUMMEL, Karl-Joseph/ KIßENER, Michael (Hrsg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn, München, Wien, Zürich 2010; KIßENER, Michael: Katholiken im Dritten Reich: eine historische Einführung, in: Karl-Joseph Hummel/ Michael Kißener (Hrsg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn, München, Wien, Zürich 2010, S. 13–36.


Die Geschichte der Ortschaft Glandorf und ihres Umlandes im ‚Dritten Reich‘

Schließlich lassen sich die Tagebücher auch als zentrale Quellen für die Geschichte der Gemeinde Glandorf und ihres Umlandes in der NS-Zeit verstehen, die – durch weitere Dokumente bzw. Quellen ergänzt – Grundlage für eine kritisch-reflektierte lokal- und landesgeschichtliche Geschichtsschreibung werden kann.15 Beckmanns Schriften nehmen in weiten Teilen den Charakter einer Ortschronik an und eröffnen uns zahlreiche Einblicke in verschiedenste Ereignisse und Entwicklungen im Glandorf der 1920 bis 1940er Jahre, über die die lokalgeschichtliche Geschichtsschreibung bisher kaum Wissen zutage gefördert hat und zu denen vermutlich keine oder kaum anderweitige Quellen in größerem Umfang erhalten sind. Die Tagebücher versprechen uns – vor allem angesichts ihres zeitlichen und inhaltlichen Umfangs – einmalige und tiefe Einblicke in politische, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen und Ereignisse Glandorfs, die der Nachwelt ohne Beckmanns Schriften vermutlich verborgen geblieben wären.

Die Edition eröffnet hierdurch vor Ort viele neue Möglichkeiten der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, sei es im wissenschaftlichen, politischen, kulturellen oder im Bildungskontext.

  1. (Weiterführende) Literatur zum Nationalsozialismus im Osnabrücker Land: BONDZIO, Sebastian/ GANDER, Michael: "Das gesunde Volksempfinden gröblichst verletzt". Die Verfolgung verbotenen Umgangs durch die Osnabrücker Gestapostelle, in: Insa Eschenbach/ Christine Glauning/ Silke Schneider (Hrsg.): Verbotener Umgang mit "Fremdvölkischen". Kriminalisierung und Verfolgungspraxis im Nationalsozialismus, Berlin 2023, S. 217–235; BONDZIO, Sebastian/ RASS, Christoph/ WELLNITZ, Wiebke: Machtkampf. Raumbezogene Strategien von NSDAP und KPD in Osnabrück (1928-1933), in: Osnabrücker Mitteilungen. 2022, H. 127, S. 213–241; HEESE, Thorsten (Hrsg.): Topografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, Bramsche 2015; BADE 2009.


Die Bedeutung der NSDAP-Ortsgruppen im ländlichen Raum

Gleichzeitig geben die Tagebücher Beckmanns, der sich u. a. als Organisationsleiter in der Glandorfer NSDAP-Ortsgruppe betätigte, Einblicke in die Parteiarbeit auf lokaler Ebene, in der Hundertausende Deutsche verschiedene Ämter bekleideten.16 Die Quellenedition eröffnet uns damit auch die Möglichkeit, exemplarisch tief in das Funktionieren und die Bedeutung der NSDAP-Ortsgruppen, dem „Fundament der Diktatur“17 und der Basis der nationalsozialistischen Parteiarbeit, zu blicken: Diese lokalen Zweigstellen der NSDAP verkörperten durch ihre Arbeit das nationalsozialistischen Gewaltregime im lokalen Kontext. Sie stellten die unmittelbarsten Organisationseinheiten in der aktiven lokalen Ausgestaltung der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft’ dar und gewährleisteten die Allgegenwart der NSDAP, der nationalsozialistischen Ideologie und der Person Adolf Hitlers selbst in den am dünnsten besiedelten Räumen und Orten des ‚Dritten Reichs‘.

Sie organisierten Kundgebungen, Feste, Vorträge und verschiedene weitere Propagandaveranstaltungen, die der Verwirklichung und Unterstützung der Politik und Ziele der NSDAP sowie der ideologischen Indoktrination der Bevölkerung dienten. Auch mobilisierten sie die Bevölkerung zu politischen Aktionen, zu Aufmärschen und Versammlungen. Auch die Gewalt gegen politische und ideologische Gegner:innen und Feindbilder der Nazis wurde mitunter von den Ortsgruppen gestaltet. Für die Ausbreitung der nationalsozialistischen Ideologie und Bewegung und den Erfolg der NSDAP waren sie in den Jahren vor der ‚Machtergreifung’ der Nationalsozialisten entscheidend.

Die Tagebücher Beckmanns, die auch aus seiner Sicht als Ortsorganisationsleiter der lokalen NSDAP verfasst sind, geben also Einblick in die grundlegende und unmittelbare praktische Gestaltung und Lenkung der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft’ auf dem Land.

  1. (Weiterführende) Literatur zur NSDAP-Ortsgruppe: HAAR, Ingo et al.: Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009; MÜLLER-BOTSCH, Christine: "Den richtigen Mann an die richtige Stelle". Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktionären, Frankfurt am Main 2009, S. 25–46; REIBEL, Carl-Wilhelm: Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932- 1945, Paderborn, München 2002; WAGNER 1998; POMMERIN, Reiner: Die räumliche Organisation von Staat und Partei in der NS-Zeit, Köln 1992; HORN, Wolfgang: Zur Geschichte und Struktur des Nationalsozialismus und der NSDAP, in: Neue politische Literatur. 1973; HORN, Wolfgang: Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP (1919-1933), Düsseldorf 1972.e

  2. REIBEL, Carl-Wilhelm: Das Fundament der Diktatur: die NSDAP-Ortsgruppen 1932-1945, Paderborn 2002.


Die Genese eines lokalen NSDAP-Funktionärs aus einem Soldaten des Ersten Weltkriegs

Aufgrund der Tatsache, dass sowohl der Großteil der Selbstzeugnisse Beckmanns aus den Jahren 1933 bis 1945 sowie auch sein Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg mitsamt einiger persönlicher Aufzeichnung aus der Zeit der Weimarer Republik erhalten sind und in dieser Edition in einem Verbund ediert werden konnten, ermöglicht es uns, eine lebensgeschichtlich übergreifende und komparative biografische Perspektive auf den Autoren einzunehmen. Da Beckmann als Chronist seines eigenen Lebens zwischen 1914 und 1945, wenngleich in unterschiedlicher Dichte, kontinuierlich Tagebuch führte bzw. autobiografische Schriften verfasste und verschiedenste Erlebnisse und Entwicklungen aus allen Episoden dieses Zeitraums ausführlich dokumentierte, verspricht uns die Edition einen besonderen biografischen Erkenntniswert: Sie ermöglicht uns tiefgehende, 30 Jahre umfassende Einblicke in die Genese eines jungen Soldaten des Ersten Weltkriegs hin zu einem überzeugten Nationalsozialisten, die exemplarisch für viele andere Biographien dieser Zeit stehen.19 In ihrem zeitlichen Umfang und in ihrer Ausführlichkeit und Tiefe sind die edierten Quellen, die die Lebensgeschichte und das Selbstverständnis eines lokalen NSDAP-Kaders im ländlichen Raum dokumentieren, von gewissem Seltenheitswert. Der biografische Zuschnitt der Edition erlaubt es uns, durch das Leben Beckmanns wie mit einer „Sonde“ in die Tiefen der deutschen NS- und Kriegsgesellschaft einzudringen.20 Dabei ist stets zu beachten, dass wir durch die edierten Schriften umfassende Einblicke in die Selbstwahrnehmung, -inszenierung und -narration Beckmanns erhalten, während uns die Außenwahrnehmung Beckmanns hierin verschlossen bleibt.

  1.  (Weiterführende) Literatur zur Entwicklung nationalsozialistischer Einstellungen (vor dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten Weltkriegs): KRUMEICH, Gerd: Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann. Die Nazis und die Deutschen 1921-1940, Freiburg, Basel, Wien 2024; BONDZIO, Sebastian: Soldatentod und Durchhaltebereitschaft. Eine Stadtgesellschaft Im Ersten Weltkrieg, Boston 2020; HERBERT, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, München 2016; MÜLLER-BOTSCH 2009; KRUMEICH, Gerd: Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg – Ein Forschungsprojekt des Historischen Seminars, in: Rektor der Rektor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Hrsg.): Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2007/2008, Düsseldorf 2008, S. 339–358; BRACHER, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 2003.

  2. HERBERT, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, München 2016, S. 17.


Fazit: Eine vielversprechende Quellenedition – aus verschiedenen Perspektiven

Schon diese kurzen Betrachtungen verweisen auf die vielfältigen Potenziale der Edition der Schriften Beckmanns für verschiedene historiografische Perspektiven. Die vorliegende Edition eröffnet damit unterschiedlichste Möglichkeiten der Schwerpunktsetzung einer weitergehenden wissenschaftlichen, kulturellen und schulischen Auseinandersetzung mit dem Beckmann’schen Schriften.



(Weiterführende) Literatur

ALY, Götz: Volksgemeinschaft, in: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 71. 2019, S. 485–487.

BADE, Claudia: "Die Mitarbeit der gesamten Bevölkerung ist erforderlich!". Denunziation und Instanzen sozialer Kontrolle am Beispiel des Regierungsbezirks Osnabrück 1933 bis 1949, Osnabrück 2009.

BARTOLETTI, Susan Campbell: Jugend im Nationalsozialismus. Zwischen Faszination und Widerstand, Berlin 2007.

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BONDZIO, Sebastian/ GANDER, Michael: "Das gesunde Volksempfinden gröblichst verletzt". Die Verfolgung verbotenen Umgangs durch die Osnabrücker Gestapostelle, in: Insa Eschenbach/ Christine Glauning/ Silke Schneider (Hrsg.): Verbotener Umgang mit "Fremdvölkischen". Kriminalisierung und Verfolgungspraxis im Nationalsozialismus, Berlin 2023, S. 217–235.

BONDZIO, Sebastian/ RASS, Christoph/ WELLNITZ, Wiebke: Machtkampf. Raumbezogene Strategien von NSDAP und KPD in Osnabrück (1928-1933), in: Osnabrücker Mitteilungen. 2022, H. 127, S. 213–241.

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Einleitung
Zur Bedeutung des Projekts