Die Quellenfunde und die Entstehung des Projekts
Die Tagebücher aus dem Nachlass des Glandorfer Volksschullehrers Bernhard Beckmann wurden vermutlich jahrzehntelang, womöglich seit Beckmanns Tod vor über 50 Jahren, von einem seiner Söhne verwahrt. Dessen in Münster wohnhafte Tochter wiederum verwahrte die Egodokumente ihres Großvaters seit dem Tod ihres Vaters auf. Im Rahmen der Sanierung des Hauses Wibbelsmann, des ehemaligen Wohnhauses Bernhard Beckmanns, und der Aufwertung zum lokalen Kulturzentrum durch den Heimat- und Kulturverein Glandorf entstand ein vertiefter Kontakt zwischen dem Verein und Enkel:innen Beckmanns. Im Herbst 2020 erfuhr der Verein dann erstmals von den Büchern und Heften aus dem Nachlass Beckmanns, woraufhin dieser und die Enkel:innen die – offenbar vom Großvater selbst verfassten – chronik- und tagebuchartigen Aufzeichnungen gemeinsam sichteten. Schließlich stellten Beckmanns Enkel:innen die Schriften, deren genauer Entstehungszusammenhang nicht überliefert ist, dem Heimat- und Kulturverein für die geschichtskulturelle Nutzung zur Verfügung.
Beckmann dokumentierte in seinen Schriften vor allem persönliche Erfahrungen und Beobachtungen aus der Zeit zwischen 1914 und 1945, die Aufzeichnungen enthalten aber auch weiter zurückreichende retrospektive (auto-)biografische Beschreibungen sowie lokalhistorische Schilderungen über die Gemeinde Glandorf und das Umland. Der größte Teil davon ist handschriftlich verfasst.
Der am 10. April 1893 in Osnabrück geborene Autor Bernhard Beckmann war nach seinem Dienst in der Preußischen Armee im Ersten Weltkrieg 1918 nach Glandorf gekommen und fand dort mit 25 Jahren eine Anstellung als Lehrer an der Volksschule. Bald darauf heiratete er in die Glandorfer Familie Wibbelsmann ein. Er lebte bis zu seinem Tod am 25. Juni 1966 in Glandorf.
Kernstücke des hinsichtlich des zeitlichen und inhaltlichen Umfangs und seiner Ausführlichkeit außergewöhnlichen Quellenfundes sind die Tagebuchaufzeichnungen, die Bernhard Beckmann während der beiden Weltkriege verfasste. Seine Weltkriegstagebücher umfassen zum einen ein etwa 180 Seiten langes Tagebuch über seinen Dienst als Soldat im Ersten Weltkrieg, das zusammen mit etwa 100 Seiten autobiografischen und Tagebuchaufzeichnen aus und über die Zwischenkriegszeit sowie die Zeit vor 1914 in einem ‚Büchlein‘ aufgeschrieben wurde. Zum anderen enthalten sie ca. 780 Seiten umfassende tagebuch- und chronikartige Aufschreibungen über sein Leben und das Geschehen in der Gemeinde Glandorf im ‚Dritten Reich‘, die mit einem retrospektiven Blick ins Jahr 1932 beginnen und mit Einträgen zum 5. Mai 1945 enden. Da Beckmann altersbedingt nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurde, sind seine Schilderungen vor allem durch den Blick auf die Wirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Krieges auf die gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Wirklichkeit im katholischen und ländlich geprägten Glandorf geprägt. Insbesondere beschreibt Beckmann das wesentlich von ihm mitgestaltete Wirken der Glandorfer NSDAP-Ortsgruppe, in der er seit ihrer Gründung im Jahr 1933 verschiedene höhere Ämter bekleidete.
Entstanden ist schließlich ein einmaliges Ensemble aus Selbstzeugnissen, das die Wahrnehmungen und Deutungen einer Person, die das sog. „Zeitalter der Extreme“1 erlebte und mitgestaltete, über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg schriftlich bezeugt. Die Quellen geben Einblick in Beckmanns prägende Jahre als Soldat des Deutschen Kaiserreichs, seine Arbeit als Lehrer mit deutsch-nationaler Gesinnung, die Geschehnisse in Glandorf zur NS-Zeit und seinen Beitrag zur Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft und ‚Volksgemeinschaft‘ in seinem lokalen Umfeld. Zugleich treten Formen von Beckmanns Selbstdarstellung und -inszenierung deutlich hervor.
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Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1997.↩
Das ehemalige Geschäftshaus der Familie Wibbelsmann, das Haus Wibbelsmann, im Herzen Glandorfs, – nach Beckmanns Heirat mit Maria Wibbelsmann zwischenzeitlich auch ‚Haus Beckmann‘ genannt, ist der Ort, von dem aus Beckmann den größten Teil seines Lebens aus wirkte und das Geschehen im Ort beobachtete. Die Schilderungen über Glandorf im ‚Dritten Reich‘ stammen also von einem Beobachter und Akteur, dessen Lebensmittelpunkt der Ortskern war, in dem sich zentrale Geschehnisse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Wirklichkeit der sog. ‚Volksgemeinschaft‘ abspielten. Aus den Schriften spricht also gewissermaßen ein Autor, der ‚an der Quelle‘ nationalsozialistischer Herrschaft im ländlichen Raum saß.
Der Heimat- und Kulturverein Glandorf plante, nachdem er von den historischen Schriften Beckmanns erfahren hatte, zunächst deren Sicherung und Archivierung im restaurierten und 2022 eröffneten Haus Wibbelsmann, das neben seiner Funktion als Vereinsgebäude und lokaler kultureller Begegnungsstätte auch als Glandorfer Ortsarchiv dient. Zusätzlich erwog der Verein, dieses einmalige Quellenensemble zu veröffentlichen, und diskutierte, inwiefern sich eine Publikation im Rahmen der vom Heimat- und Kulturverein bereits mehrfach herausgegebenen und ehrenamtlich erarbeiteten Glandorf Editionen realisieren ließe.
Mit Blick auf die Eigentümlichkeiten dieses äußerst umfangreichen Quellenfundes erschien die eigene Editionsreihe Glandorf Edition nicht als ideales Format zur Umsetzung des Editionsvorhabens: Die Quellen sind größtenteils handschriftlich verfasst. Beckmanns Handschrift basiert auf der deutschen Kurrentschrift, die um die Jahrhundertwende in Schulen im deutschsprachigen Raum gelehrt wurde, wobei sie durch einen sehr individuellen Stil geprägt ist. Angesichts der persönlichen Färbung der Schrift und der Tatsache, dass gegenwärtig nur mehr wenige Menschen Kurrent, Sütterlin und ältere deutsche Handschriften lesen können, wäre eine fotografische Reproduktion vermutlich nur wenig rezipiert worden. Um die Inhalte der Schriften einer breiten potenziellen Leser:innenschaft zugänglich zu machen, bedurfte es also einer vollständigen Transkription dieses sehr umfangreichen handschriftlichen Quellenmaterials, die wiederum nur durch einen großen Zeit- und Arbeitsaufwand zu bewältigen war. Ähnlich verhielt es sich mit Blick auf die umfangreiche text- und sachkritische editorische Aufbereitung der ca. 1000 Seiten umfassenden Quellen sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den persönlichen, lokalen, zeitlichen und politisch-gesellschaftlichen Bedingungen und Kontexten, aus denen heraus die Schriften entstanden sind und auf die sie referieren. Diese notwendigen editorischen und kritischen wissenschaftlichen Operationen zur Aufbereitung dieses sehr voluminösen Quellenfunds für eine Publikation erforderten eine arbeits- und zeitintensive Auseinandersetzung mit den vorliegenden Quellen. Angesichts der ‚Größe‘ dieses Vorhabens und dem Ziel, eine anspruchsvolle und wissenschaftlichen Standards entsprechende Quellenedition zu erarbeiten, die sich für eine breite wissenschaftliche sowie kulturelle, didaktische, aber auch private Nutzung eignen würde, drängte sich der Bedarf nach einer professionellen geschichtswissenschaftlichen Umsetzung des Vorhabens auf. So wandte sich der Verein an die Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung (NGHM) des Historischen Seminars der Universität Osnabrück, um eine gemeinsame Realisierung dieses Vorhaben zu diskutierten. Im Kontakt mit der NGHM reifte daraufhin die Idee, die Quellen in einer kostenfrei verfügbaren digitalen Online-Edition der wissenschaftlichen sowie außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich machen.
Angesichts der Tatsache, dass nicht nur die Aufzeichnungen aus der Zeit der NS-Diktatur, sondern auch das handgeschriebene Tagebuch von Bernhard Beckmann mit seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg überliefert ist, entwickelte sich das Vorhaben, im Editionsprojekt eine lebensgeschichtlich übergreifende und komparative Perspektive einzunehmen und die Selbstzeugnisse aus beiden Epochen in einem Verbund zu edieren. Die Umsetzung dieses Projekts erfolgte daraufhin in den 2022 bis 2024.